Quantcast
Channel: WELT Investigativ Blog » Toulouse
Viewing all articles
Browse latest Browse all 2

Leben und Sterben des Mudschahid Mohamed Merah

$
0
0

Leben und Sterben des Mudschahid Mohamed Merah

Der Fall des 23-jährigen Mohamed Merah ist das letzte erschreckende Beispiel einer neuen Generation islamistischer Terroristen. Das Porträt eines eiskalten Killers.

Foto: AFP

Mohamed Merah, der Todesschütze von Toulouse

Von Florian Flade

Eigentlich rechnete Ebba Kalondo nicht mehr mit einem Anruf. Doch dann klingelte kurz nach 1 Uhr in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch das Telefon der Journalistin.

Die Redakteurin des französischen TV-Senders France24 war verwundert, als sie hörte, wer sie mitten in der Nacht sprechen wollte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein junger Mann.

Er habe sich gut ausdrücken können, erinnert sich die Journalistin, aber was der Anrufer zu berichten hatte, war schockierend. Er sei der Todesschütze von Toulouse, sagte der Mann am Telefon, er sei der Unbekannte, der in den vergangenen zwei Wochen drei französische Soldaten, drei jüdische Schulkinder und einen Rabbiner erschossen hatten.

Was folgte, war ein 11-minütiges Telefonat mit einem islamistischen Killer.

“Mit einem Lächeln sterben”

Er sei ein Mudschahid, ein Krieger Allahs, erklärte der Anrufer der Journalistin Kalondo. Er habe die Soldaten und die jüdischen Kinder aus Rache für den französischen Militäreinsatz in Afghanistan und die israelische Politik erschossen.

“Die Juden töten unsere Brüder und Schwestern in Palästina”, so der Anrufer. Auch das in Frankreich geltende Burka-Verbot erwähnte der Mann am Telefon, erinnert sich die Reporterin. Seine Taten seien erst der Anfang, warnte er, es würden weitere folgen, in Paris und Lyon. Der Anrufer erzählte, er habe seine Taten gefilmt und werde die Aufnahmen schon bald veröffentlichen.

Was er denn zu tun gedenke, wollte Kalondo von dem Anrufer wissen. “Ich werde mit erhobenem Kopf ins Gefängnis gehen oder mit einem Lächeln sterben, sonst nichts”, antwortete der Mann.

Der Anrufer war Mohamed Merah, ein 23-jähriger Franzose mit algerischen Wurzeln, geboren und aufgewachsen im südfranzösischen Toulouse. Mittlerweile ist sein Name weltweit in Medien präsent.

Alles fing mit einem Motorrad an

Frankreich und der Rest der Welt rätseln: Wer ist der junge Mann, der auf so perfide Art mordete, sich in einer Wohnung in Toulouse verschanzte und schließlich durch einen Kopfschuss starb? Wie wurde aus Mohamed Merah, dem Kleinkriminelle,n ein islamistischer Serienmörder?

Es begann mit einem Motorrad. Der 30-jährige französische Soldat Imad Ibn Ziaten beschloss im Februar, sein Motorrad zu verkaufen. Zu diesem Zweck erstellte der Fallschirmjäger aus Toulouse eine Anzeige in einem Internet-Portal. 575 Personen nahmen daraufhin mit Ibn Ziaten Kontakt auf und bekundeten Interesse an der Maschine.

Am 11. März kam es zum Treffen mit einem der Interessenten, der sich per E-Mail gemeldet hatte. Er habe im Militär gedient, schrieb der potenzielle Käufer. Er sei auch Soldat, entgegnete Ibn Ziaten, habe mit dem 17. Fallschirmjäger-Regiment aus Montauban in Afghanistan gedient.

Schüsse in den Kopf

Das war sein Todesurteil. Noch als Imad Ibn Ziaten dem Interessenten das Motorrad zeigte, zog dieser eine Pistole und erschoss den Soldaten auf kurzer Distanz mit mehreren Schüssen in den Kopf.

Seit jenem Tag liefen die Ermittlungen im Fall Ibn Ziaten. Die französische Polizei begann, alle erdenklichen Informationen zu dem Mord an dem Soldaten zusammen zu tragen. Nur vier Tage später, am 15. März, schlug der Mörder von Imad Ibn Ziaten erneut zu.

In Montauban erschoss ein Mann auf einem schwarzen Motorroller drei weitere Fallschirmjäger, als diese gerade an einem Geldautomaten warteten, ein vierter wurde schwer verletzt.

Wieder war die Tatwaffe eine Colt Kaliber 11,43 mm, wie der Soldat Ibn Ziaten hatten die Opfer auch diesmal einen nordafrikanischen Hintergrund. Waren die Soldaten-Morde also die Tat eines Rassisten? Oder wollte der Killer Rache für den Afghanistan-Einsatz der französischen Armee?

Eine erste Spur fanden die Ermittler auf dem Computer des ersten Opfers. Imad Ibn Ziaten hatte mit seinem Mörder wegen eines Motorrad-Kaufs E-Mails ausgetauscht.

Die Polizei überprüfte alle 575 Kontaktaufnahmen, die der Verkäufer über das Online-Verkaufsportal erhalten hatte. Am 17. März wurden sie fündig.

Eine E-Mail Adresse war von einem Computer abgeschickt worden, der die Aufmerksamkeit der Ermittler erregte. Es war der Computer von Asseri Merah.

Die Kontakte des Bruders in Terroristenkreise

Die Algerierin lebt in Toulouse und steht seit geraumer Zeit im Interesse des französischen Geheimdienstes. Grund dafür sind ihre Söhne.

Merah, die ihre drei Söhne und zwei Töchter allein großzog, wie Nachbarn berichten, gilt als strenggläubige Muslima mit Kontakten ins radikalislamische Milieu von Toulouse. Ihren ältesten Sohn Abdelkader (29) führt Frankreichs Geheimdienst als militanten Islamisten mit brisanter Vergangenheit.

Abdelkader Merah war 2007 im Irak zum islamistischen Kämpfer ausgebildet worden, hatte Kontakte zu Terrornetzwerken, für die er auch nach seiner Rückkehr nach Frankreich rekrutierte und warb.

Er soll in der radikalen Gruppierung “Fursan al-´Izza” (Krieger des Stolzes) aktiv gewesen sein, die in Toulouse etwa ein Dutzend Mitglieder hatte. “Fursan al-´Izza” wurde im Januar vom französischen Innenministerium verboten und ist seither unter anderem Namen im Internet aktiv.

Die erste Spur zum Soldaten-Killer führte also offenbar bereits in der vergangenen Woche in die islamistische Szene – heiß war sie jedoch noch nicht. Es bedurfte genauer Nachforschungen.

Schock am Montag

Unter einem unglaublichen Arbeitseinsatz, wie die französische Staatsanwaltschaft mitteilte, hörten die Geheimdienste insgesamt über 200 Telefonate ab und überprüften mehr als 700 Internetverbindungen.

Dann der Schock. Am Montag schlug der Mörder auf dem Motorroller erneut zu. Wieder in Toulouse, wieder mit der Großkaliber-Pistole. Das Ziel diesmal: jüdische Kinder.

Um kurz nach 8 Uhr am Montagmorgen betrat ein kräftiger, athletischer Mann in schwarzer Motorrad-Montur den Schulhof des Ozar-Hatorah-Gymnasiums im Nordwesten von Toulouse. Augenblicklich begann er auf Kinder und Erwachsene zu schießen. Nach wenigen Minuten waren ein 30-jähriger Lehrer, dessen drei und sechs Jahre alte Söhne und die achtjährige Tochter des Schuldirektor ermordet.

Zielstrebig und eiskalt sei der Mörder zu seinem Motorroller gegangen und sei davon gefahren. Augenzeugen berichten, er habe eine Kamera um den Hals getragen, möglicherweise um seine Bluttat zu filmen.

Frankreich verfiel in einen Schockzustand. Nach Soldaten nun Kinder? Juden, ermordet mitten in Frankreich kurz nach Schulbeginn? Was treibt den Killer von Toulouse?

Unnachgiebig verfolgten die französischen Fahnder jede einzelne Spur – auch die in die Familie Merah. Abdelkader Merah und sein jüngerer Bruder Mohamed rückten zunehmend in den Fokus des Geheimdienstes. War womöglich der Irak-Veteran Abdelkader der Attentäter? Oder sein kleiner Bruder, ein eher unauffälliger Kleinkrimineller?

Wegen 18 Delikten vor Gericht

Der jüngere, Mohamed Merah, geboren im Oktober 1988, hatte seit seiner Jugend eine beachtliche Zahl von Straftaten angesammelt. Das bestätigte sein Anwalt Christian Etelin, der den jungen Mann seit seinem 15.Lebensjahr kennt. Wegen achtzehn Delikten, meist Handtaschendiebstahl oder Körperverletzung, stand er bereits in seiner Heimatstadt Toulouse vor Gericht. Fünfzehn Mal war er verurteilt worden, zwei Mal hatte er im Gefängnis gesessen, zuletzt vom Dezember 2007 bis September 2009.

Nach dieser Haft hatte sich Mohamed Merah verändert. Im Knast, so vermuten Ermittler, hat der Franco-Algerier zum Glauben gefunden. Eine salafistische Radikalisierung habe eingesetzt, erklärte die Staatsanwaltschaft. Möglicherweise bestärkt durch den älteren Bruder Abdelkader, der in die islamistische Szene eingebunden ist, soll Mohamed Merah zunehmend fanatisch im Glauben geworden sein.

Freunde und Nachbarn widersprechen. Sie beschreiben Merah als freundlichen, höflichen jungen Mann. Der 23-jährige, der zuletzt in einer Karosseriewerkstatt gearbeitet haben soll, sei nicht auffällig gewesen, habe keinen Vollbart getragen oder für Salafisten typische Kleidung.

Er habe sich für Autos, Frauen und Motorräder interessiert, berichtet ein Freund. Sogar in Diskotheken soll Merah in den vergangenen Wochen immer wieder gesehen worden sein.

In Afghanistan überprüft

Vor zwei Jahren jedoch trat Merah das erste Mal eine ungewöhnliche Reise an. Wie die Polizei mitteilt, soll der Franzose auf eigene Kosten, und ohne direkte Kontakte in die Region, mit einem Touristen-Visum nach Pakistan und anschließend nach Afghanistan gereist sein. Bis in die pakistanischen Stammesgebiete von Waziristan habe ihn der Trip geführt. Was genau Merah in dieser Bergwelt, in der sich zahllose islamistische Terrorgruppen tummeln, trieb, ist unklar.

Fest steht: 2010 wurde Mohamed Merah aus Toulouse mehr oder weniger zufällig von amerikanischen Nato-Soldaten an einem Checkpoint im südafghanischen Kandahar überprüft. Da es den Soldaten ungewöhnlich erschien, auf einen jungen Franzosen zu treffen, informierten sie das französische Militär und schließlich den französischen Geheimdienst.

Offenbar aber gab es keinerlei Grundlage, Mohamed Merah als möglichen Dschihad-Kämpfer festzunehmen. Trotzdem soll er von Geheimdienst-Beamten verhört worden sein.

Unbestätigt sind Berichte, wonach Merah nach seiner Rückkehr aus Afghanistan noch im Jahr 2010 versucht haben soll, der französischen Armee beizutreten. Diese lehnte den Sohn einer Algerierin und eines Franzosen angeblich aufgrund seiner kriminellen Vergangenheit ab. Und auch eine Bewerbung bei der Fremdenlegion scheiterte wegen psychischer Instabilität.

Die Sache mit dem GPS-Sender

Im vergangenen Jahr, so bestätigen französische Geheimdienstkreise, reiste Merah erneut in die Region. Vom August bis September 2011 soll sich der ehemalige Kleinkriminelle im pakistanischen Waziristan aufgehalten haben – vermutlich zur Ausbildung in einem terroristischen Lager. Aufgrund einer Hepatitis-A-Erkrankung habe Merah nach Frankreich zurückkehren müssen, erklärte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft.

Der Waziristan-Reisende Mohamed Merah und sein Bruder Abdelkader, der Dschihadist mit Irak-Erfahrung, standen nun also seit Montag mit Visier der französischen Fahnder.

Es passte vieles. So hatte sich zum Beispiel der Betreiber einer Garage für Motorräder und Roller bei der Polizei gemeldet. Christian Dellacheru war etwas Ungewöhnliches aufgefallen.

Seit Jahren war Mohamed Merah einer seiner Kunden. Aber erst vor wenigen Tagen war er mit seinem schwarz-grauen Yamaha-Roller, den er am 6. März offenbar gestohlen hatte, zu ihm gekommen und hatte ihn gebeten, den GPS-Sender, der serienmäßig in das Fahrzeug eingebaut ist, zu entfernen.

Rue Sergent Vigné Nr.17 in Toulouse

Der Mechaniker war alarmiert. Für die Ermittler war es nur ein weiteres Puzzle-Teil das den Verdacht gegen den 23-jährigen erhärtete.

Ein Zugriff aber konnte auch nach der Bluttat an der jüdischen Schule nicht stattfinden. “Die Brüder Merah konnten nicht lokalisiert werden”, erklärte ein Ermittler. “Erst am Montagabend gab es ein Telefonat zu der Mutter.”

Insgesamt acht Telefon-Verbindungen der Familie Merah waren überwacht worden. Schließlich meldete sich Mohammed. Die Ermittler hörten mit und machten ihn am Dienstag ausfindig – in eine Wohnung im mehrstöckigen Haus in der Rue Sergent Vigné Nr.17 in Toulouse, unweit der Ozar-Hatorah-Schule, die am Montag Schauplatz einer regelrechten Hinrichtung war.

Präsident Nicolas Sarkozy wurde laufend über den Ermittlungsstand informiert und erfuhr am Dienstag, dass sich die Hinweise auf einen Täter aus dem islamistischen Bereich konkretisiert hatten. Sarkozy gab mit dem Innenminister am Dienstagabend den Befehl, einen Zugriff zu starten. Die französische Spezialeinheit RAID bereitete sich vor und bezog am Haus Stellung. Die Bewohner der anderen Mietwohnungen wurden evakuiert.

Um 3 Uhr nachts, nur zwei Stunden, nachdem sich Mohamed Merah bei der France24-Journalistin Ebba Kalondo per Telefon gemeldet und sich als gesuchter Killer geoutet hatte, wagten die französischen Elitepolizisten einen ersten Zugriffsversuch.

Mit Uzi und Kalaschnikow

Als die Beamten das Gebäude stürmten, trafen sie augenblicklich auf heftigen Widerstand. Mohamed Merah feuerte durch eine geschlossene Tür und verletzte drei RAID-Polizisten. Die Einheit zog sich daraufhin zurück und belagerte seitdem das Haus in dem sich der Attentäter verschanzt hatte.

Angaben der Polizei zufolge war Merah mit mehreren Handfeuerwaffen sowie einer israelischen Maschinenpistole vom Typ Uzi und einer AK-47 Sturmgewehr bewaffnet.

Er sei ein Mitglied der al-Qaida, ein Mudschahid, rief Merah den Polizeibeamten zu, habe gemordet aus Rache für die Verbrechen in Palästina und Afghanistan. Dann warf er – im Austausch gegen ein Mobiltelefon – seine Tatwaffe, die Colt-Pistole, aus dem Fenster.

In den folgenden Stunden hatte die Polizei immer wieder Kontakt zu Merah, der angab, er werde sich bald ergeben. „Der Mann spricht viel“, berichtet der französische Innenminister Guéant später. „Er hat uns seinen kriminellen Weg beschrieben.“

Und er zeigte keinerlei Reue. Er bedauere, so Merah, nicht noch mehr Menschen getötet zu haben. Immer wieder betonte er, es seien weitere Attentate geplant. Polizisten wolle er töten und noch einen Soldaten.

Es sollte weitere Attentate geben

“Der Mann wollte an diesem Morgen töten”, sagte Frankreichs Innenminister am Mittwochmorgen. Es habe Informationen über geplante weitere Attentate gegeben. Daher sei das Haus nun umstellt worden.

Merahs Familie, die Mutter, Schwestern und Brüder wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen. Mutter Merah wurde gebeten auf ihren Sohn einzuwirken, ihn zur Aufgabe zu überreden. Die Algerierin weigerte sich. Es sei zwecklos, ihr Sohn ließe sich nicht von ihr beeinflussen, es sei zwecklos.

Den Bruder Abdelkader verdächtigen die französischen Ermittler, Mohamed unterstützt zu haben. Im seinem Auto soll Sprengstoff gefunden worden sein. Ein weiteres Auto, ein Renault Clio in dem sich vermutlich weitere Schusswaffen oder Sprengstoff befinden, werde noch gesucht, hieß es von Seiten der Polizei.

Inzwischen ist Mohamed Merah, der Mörder von Toulouse und Montauban, tot. Nach mehr als 30 Stunden nervenaufreibender Belagerung stürmte die Spezialeinheit RAID die Wohnung am Donnerstagvormittag und durchkämmte Raum für Raum.

Tot auf dem Boden vor dem Haus

Der Todesschütze Merah hatte sich im Badezimmer versteckt und auf den Zugriff der Polizei mit einem Frontalangriff reagiert. Er feuerte mehrere lange Salven aus einem Maschinengewehr auf die anrückenden Elitepolizisten, flüchtete dann zurück ins Badezimmer und fiel mit einer Pistole in der Hand aus dem Fenster.

Die Polizisten fanden den 23-jährigen selbst ernannten Gotteskrieger tot auf dem Boden vor dem Haus liegend. Scharfschützen hatten ihn offenbar noch am Fenster erschossen.

In einer Woche hätte Mohamed Merah eine weitere Haftstrafe antreten müssen. Nach Angaben seines Anwalts war er am 24. Februar vor einem Toulouser Gericht wegen eines Unfalls mit seinem Motorroller und “Fahren ohne Führerschein” verurteilt worden. Merah war vor dem Gericht erschienen. Ruhig und nett sei sein Mandant da gewesen, erinnert sich sein Verteidiger.

http://www.welt.de/politik/ausland/article13939534/Leben-und-Sterben-des-Mudschahid-Mohamed-Merah.html

 

WELT Investigativ Blog


Viewing all articles
Browse latest Browse all 2

Latest Images

Trending Articles